Sonntagnacht, elfter Dezember, irgendwo in Frankreich: Irgendwo in Frankreich? Nein, nicht irgendwo, irgendwo zwischen Paris und Fessenheim. Dort begeben sich mehrere Individuen auf einen Mast einer 400.000 Volt Hochspannungsleitung. Sie sind nicht gekommen, um die Aussicht zu bewundern, nein, sie haben ein klare Absicht: Sie wollen „die Kämpfe fortsetzen, für die unsere GefährtInnen hinter Gittern sind“, denn dies sei „die leidenschaftlichste Form der revolutionären Solidarität.“
Was soll das heißen? Ganz einfach – sie machten sich daran, die den Koloss stabilisierenden Bolzen abzuschrauben. „Der Mast steht zwar noch, aber seine Statik ist eindeutig gefährdet. Möge unsere revolutionäre Wut im Bündnis mit der Natur wirken und ein Wintersturm den Rest erledigen!“ Die betreffende Stromleitung wird in Zukunft das Industrieprojekt CIGÉO mit Strom versorgen. CIGÉO? Centre industriel de stockage géologique pour les déchets HA et MA-VL, zu deutsch: umkehrbares geologisches Endlager für radioaktiven Abfall in den Départements Meuse und Haute-Marne; ergo: ein Atommüll-Endlager. In Bure. Ab 2025 soll dort in einem Tunnelsystem auf einer Fläche von 30 Quadratkilometern Atommüll lagern. Und zwar die nächsten 100.000 Jahre. Bis jetzt hat Frankreich nur zwei Orte zur Lagerung von schwach- und mittelradioaktivem Abfall, der Rest des verseuchten Mülls der 56 französischen AKWs lagert in der Wiederaufbereitungsanlage La Hague. Direkt neben dem atomaren Endlager in Bure, plant der Netzbetreiber RTE ein Umspannwerk mit der Fläche von 20 Fußballfeldern, um den „Energiehunger des Atommonsters“ zu stillen. Nun gut, eine Sabotage also. Aus Solidarität… mit wem? Mit dem sich damals im Hungerstreik befindlichen Alfredo Cospito. Lassen wir die Saboteure selbst zu Wort kommen: „Alfredo hat es immer verstanden, die Frage der sozialen Revolution mit der Frage der Ökologie zu verknüpfen und durch seine Worte und Taten die ökozidale Plünderung unseres Planeten mit dem Kampf gegen die herrschenden Mächte, gegen Ausbeutung und Unterdrückung in Verbindung zu bringen. In seiner Erklärung zum Schuss ins Knie des italienischen Atomindustrieführers Roberto Adinolfi (ansaldo nucleare; 2012) und später in verschiedenen Prozesserklärungen beschrieb er die Notwendigkeit, eine revolutionäre Perspektive in der Anti-Atomkraft-Bewegung zu verankern. In einem wertvollen Beitrag zur Debatte äußerte er sich 2018 auch zum Kampf gegen das CIGÉO-Projekt zur Lagerung von Atommüll in dem französischen Dorf Bure im Département Meuse. Unter Bezugnahme auf die dort praktizierte Idee der Vielfalt der Taktiken schlug er dort eine Intensivierung der gewählten Kampfformen vor.“
Aha, eine Intensivierung der Kampfformen also…
Mit einer Intensivierung der Kampfformen sah sich eine Woche später auch ein anderes industrielles Monstrum konfrontiert. Aber beginnen wir von vorne: 18. Dezember, die vorweihnachtliche Ruhe der Adventszeit im Süden Frankreichs wird jäh unterbrochen: ein oder mehrere TäterInnen setzen zwei elektrische Hochspannungsanlagen um vier Uhr Nachts in der Region von Marseille in Brand. Die zwei Masten stehen nur wenige Meter voneinander entfernt. Und dann? Der eine Brand führte zu einer kurzen Unterbrechung der Stromversorgung der umliegenden Gemeinden. Der andere hingegen führte zur Unterbrechung der Stromversorgung in einem Teil des Flughafens Marseille-Marignane, wie der Netzbetreiber RTE berichtete, weswegen die Notstromversorgung den Betrieb übernehmen musste. Eine Polizeiquelle berichtet: „Zwei Masten von Enedis-Hochspannungsleitungen wurden an der Ecke des Boulevard Marcel Pagnol und der Départementale D9 in Vitrolles an diesem Montag in Brand gesetzt. Die erste bedient den Flughafen Marseille-Provence und das Unternehmen Airbus Helicopters.“ Ein Flughafen und ein Unternehmen, das militärisch und polizeilich genutzte Helikopter herstellt also. Zwei Industriesparten mit einem riesigen Energiehunger… Eventuell ein weiterer Versuch „die Frage der sozialen Revolution mit der Frage der Ökologie zu verknüpfen und durch Worte und Taten die ökozidale Plünderung unseres Planeten mit dem Kampf gegen die herrschenden Mächte, gegen Ausbeutung und Unterdrückung in Verbindung zu bringen.“
Doch nicht genug damit: Nur zwei Tage später erstattet der französische Netzbetreiber RTE Anzeige auf Grund einer weiteren Sabotage. Ebenfalls zwischen dem 17. und 18. Dezember wurde ein Strommast in der Gemeinde Saint-Just-et-Vacquières in der Nähe von Alès, ebenfalls im Süden Frankreichs, angesägt – „zum Glück ist er nicht umgefallen, sonst wären die Folgen sehr weitreichend gewesen, denn der Mast dieser Hochspannungsleitung wäre auf einen benachbarten Mast gefallen und hätte einen Dominoeffekt auslösen können“, wie ein Staatsanwalt berichtet. Der stellvertretende Bürgermeister pflichtet bei: „Ich bin sehr besorgt über die Radikalität, mit der gegen lebenswichtige Interessen vorgegangen wird, natürlich gegen die Industrie, aber nicht nur. Wenn die Personen, die diese Taten begangen haben, wüssten, was wir in Salindres tun, würden sie sehen, dass es sich um Katalysatoren handelt, die es ermöglichen, die Umwelt zu entlasten.“ In Salindres? Achso, die Medien und der Bürgermeister wissen, dass „das anvisierte Ziel der etwa zehn Kilometer entfernte Chemiestandort „Salindres“ war. Was passiert denn in Salindres? In dem Chemiepark stellt die vom Ölriesen Total Oil gegründete Firma Arkema beispielsweise petrochemische Erzeugnisse wie PVC her. Die Gemüter sind sich bei der vom Vize-Bürgermeister aufgeworfenen Behauptung, dass „wir die Umwelt alle zusammen schützen und nicht gegeneinander“ beim Anblick dieses Öl-und Plastikgiganten anscheinend uneins. Die Medien meinen, die Tat würde von „Umweltaktivisten“ beansprucht… Interessant, aber lesen wir das Schreiben selbst: „Wir haben den 225.000-Volt-Mast an der Hauptleitung sabotiert, die das chemisch-industrielle Zentrum Salindres (Unternehmen Arkema und andere) mit Strom versorgt. Methode : 1) Sägt die Querbalken ab. Anmerkung: Das sind die Stäbe, die die Beine miteinander verbinden. 2) Sägt mit schrägen Schnitten an beiden Füßen in Fallrichtung. Hinweis: Der Mast muss senkrecht zu den Kabeln fallen. 3) Sägt mit geraden Schnitten an denselben Füßen etwa 30 cm über den vorherigen Schnitten. Hinweis: Sägen Sie bis zum Ende, um ein vollständig abtrennbares Stück zu erhalten. 4) Rammt die abgesägten Stücke, die durch die Schwerkraft des Masts noch an Ort und Stelle gehalten werden, mit einem Rammbock. Anmerkung: Ein kleiner Baumstamm kann verwendet werden. 5) Während der Mast fällt, entfernt euch mit kleinen Schritten in die entgegengesetzte Richtung. Anmerkung: Metallsägen und Öl reichen für diese Aktion aus. Greifen wir die Konzerne an, die die Erde vergiften! (…) Stärke den kämpfenden Individuen in Frankreich, Deutschland und anderswo. Wenn die Ziele zu gut geschützt sind, kann man beim Angriff auf das Stromnetz bereits im Vorfeld sägen und sich dabei weniger in Gefahr bringen. Gehen wir in die Offensive! (…)“ Ein weiterer sabotierter Strommast also und ein weiterer Aufruf angesichts der Zerstörung der Erde zum Angriff über zu gehen…
Aber machen wir noch einmal einen Schritt zurück. Was sagte dieser seit einem Jahrzehnt inhaftierte italienische Anarchist Alfredo Cospito, der sich für die Entlassung aus der Isolationshaft im Hungerstreik befand, genau im Hinblick auf die sogenannten Umweltkämpfe als Beitrag zu einem Treffen in Bure?
„Zunächst möchte ich mich vorstellen: Vor 8 Jahren schoss ich dem CEO von Ansaldo Nucleare, dem Entwickler und Erbauer von Kernkraftwerken, in die Beine. Man muss wissen, dass Italien, auch wenn es keine Atomkraftwerke hat, diese in aller Ruhe in Länder wie Rumänien, Kroatien, Albanien… exportiert. Das Ziel dieser Aktion war es, die Anti-Atom-Bewegung in Italien wiederzubeleben und dem Kampf gegen das techno-industrielle System eine aggressive Beschleunigung zu geben. Mit einer „durchschlagenden“ Aktion wollten wir zeigen, dass die AnarchistInnen einen der Verantwortlichen für die Wiederbelebung der Atomenergie in „unserem“ Land „am lebendigen Leib“ treffen können. Ausnahmsweise haben wir uns nicht auf die alleinige zerstörerische Aktion gegen Dinge „beschränkt“, sondern wir haben eine andere Richtung eingeschlagen, indem wir direkt die Verantwortlichen für die Zerstörung „unseres“ Planeten getroffen haben. Wir haben diese Aktion mit dem Akronym „Nucleo Olga (FAI-FRI)“ bezeichnet.
Wir wollten die verschiedenen Perspektiven in ihrer Machbarkeit sichtbar machen und eine größere Offenheit für die verschiedenen Formen und Praktiken anarchistischer ökologischer Aktion anregen. Das Tabu zurückweisen, dass nur Aktionen gegen Dinge eine Berechtigung haben können. Die absurde Überzeugung von der absoluten Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in Frage zu stellen, selbst bei denjenigen, die im Namen der Wissenschaft des Fortschritts Massaker veranstalten. Das Ziel wurde nur marginal erreicht (auch wenn es viele GefährtInnen zum Nachdenken gebracht hat), weil die Praxis der „vielgestaltigen“ Aktion (zumindest hier in Italien) noch nicht vollständig verstanden und noch weniger mit ihrem ganzen Potential praktiziert wurde und noch viele Vorurteile bestehen. Viele Leute sehen „friedliche“ Blockaden von Straßenkonfrontationen, von Angriffen auf Personen zu Angriffen auf Sachen, von der Verwendung von dauerhaften Akronymen, um Kontinuität zu geben, zu zeitweiligen Akronymen getrennt voneinander… Wenige Leute erkennen, dass alle diese Praktiken ihren eigenen Grund, ihren eigenen spezifischen Zweck haben und nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander stehen. Und in bestimmten Situationen (wie in Bure), wenn sie unvoreingenommen praktiziert werden, ergänzen sie sich gegenseitig und werden wirklich effektiv, verheerend und desorientierend für die Macht. Das heißt natürlich, wenn man nicht „Exkommunikation!“ schreit, wenn bestimmte Aktionen weiter gehen und härter zuschlagen. Dies sind alles Praktiken, die, wenn sie parallel verfolgt werden, ohne sich zu widersprechen und zu bekämpfen, einen Unterschied machen und das Ziel erreichen können. Das Fehlen einer dieser Praktiken schwächt die Stärke aller anderen. Wichtig ist, dass sie die Ablehnung jeglicher institutionellen Vergiftung beinhalten, sonst werden sie zu einer Akzeptanz des Systems, nur zu kontraproduktiven Linderungsmaßnahmen. Ein spezifischer Kampf in einem abgegrenzten Gebiet wie „Bure“ kann nicht nur durch Aktionen im Rest des Landes, sondern sogar darüber hinaus verstärkt werden. Es genügt, an diese Art von „schwarzer Internationale“ zu denken, die, ohne eine zentralisierende Organisation zu brauchen, immer wieder bewiesen hat, dass sie die Kraft hat, „unsere“ Kämpfe von außen (aus den vier Ecken der Welt) zu unterstützen.
Ich werde nicht müde, es zu sagen, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wir AnarchistInnen haben eine mächtige Waffe, die in ihrer Einfachheit außerordentlich wirksam ist: die „Affinitätsgruppe“. GefährtInnen, die durch tiefe Zuneigung und Vertrauen verbunden sind, die beschließen, zu handeln, zuzuschlagen und gesund nach Hause zurückzukehren, um dann erneut zuzuschlagen. Die „Affinitätsgruppe“ findet, wenn sie zu einer „Aktionsgruppe“ wird, ihre stärkste Bedeutung in illegalen, zerstörerischen und riskanten Aktionen. Diese Gruppen hängen nicht von den Vollversammlungen ab, sie sind etwas anderes, sie haben nichts mit der Organisation zu tun, sie leben von befreienden, zerstörerischen Gesten und können dem System wirklich gefährlich werden. Vor allem, wenn sie keine Verachtung oder Überlegenheit gegenüber den Menschen, ihren Kampfversammlungen, beinhalten. Wenn die Aktion des Einzelnen oder der kleinen Gruppe nicht im Gegensatz zum Kampf „der Leute“ steht, stärkt sie ihn, treibt ihn weiter voran. Die gewaltsame und bewaffnete Aktion ist nur ein (wichtiger) Teil des Lebens einer Anarchistin, und es ist kein Widerspruch, sich nach einer Aktion an der Seite der „Leute“ in einer Versammlung zu befinden, um mitzureden, oder auf einer Barrikade oder einer Straßensperre, das einzige, was man von vornherein vermeiden sollte, ist der Dialog mit der Macht, mit den Institutionen. (…)
Es ist allen klar, dass es sich hier um einen Kampf um das Überleben nicht nur unserer Spezies, sondern um das Leben „unseres“ Planeten handelt, denn die Natur ist Tag für Tag in Gefahr, „zum Monster gemacht zu werden“. Nuklearwissenschaft und -technologie sind dabei, die chaotische Ordnung der Natur in ihren Grundfesten zu erschüttern. Wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn wir die Dinge wirklich ändern und diesen selbstzerstörerischen Prozess umkehren wollen. Wir dürfen nicht, und vor allem können wir dem Handeln keine Grenzen mehr setzen, wir müssen die Ängste überwinden und die Skrupel aufgeben und loslegen.“
Nun gut, vielleicht sind die drei im Voraus genannten Angriffe Beispiele für das, was der in italienischen Kerkern lebendig begrabene Gefährte meint, wenn er von Aktionen in einem Kampf redet, die weitergehen und härter zuschlagen. Vielleicht sind sie auch nur weitere Versuche die Arterien des industriellen Systems zu durchtrennen, die sich überall befinden und dieses mit Energie, Daten und Waren versorgen.
In jedem Fall zeichnen die aufgeworfenen Ziele interessante Eckpunkte, wenn wir darüber reden, „die Frage der sozialen Revolution mit der Frage der Ökologie zu verknüpfen“: Die Atomindustrie, die Militär- und Flugindustrie sowie die (Öl- und) chemische Industrie. Alle drei zweifellos Industriezweige, die beispielhaft für nicht nur einen gigantischen Energiehunger des industriellen Systems, sondern auch für dessen Zerstörung, Vergiftung und Verpestung des Planeten stehen.
Aber wechseln wir für einen Moment das Zentrum unserer Aufmerksamkeit: In Deutschland scheint gerade eine sogenannte Klimabewegung Dynamik zu bekommen. Das geräumte Dorf Lützerath wurde kürzlich zu einem Punkt des Kampfes gegen die zerstörerische Monstrosität der Kohleindustrie. Auch inmitten dieses Kampfes schien es zahlreiche Menschen gegeben zu haben, die sich in gemeinsamen Vertrauen zueinander zusammen getan haben, um zuzuschlagen, und weiter zu gehen: Angriffe auf Bullen und ihre Autos rund um Lützerath, Sabotagen der RWE-Kohlebahn, Blockaden von Zufahrtsstraßen und Besetzungen von Maschinen, zerstörte Scheiben von Parteibüros in diversen Orten, abgefackelte Siemens-Autos und Strabag-Transporter, solidarische Demos, die Scherben klirren lassen und ein lichterloh brennender Fuhrpark von Amazon. All diese Handlungen kommen in einem gemeinsamen Kampf zusammen, der durch eine gemeinsame Vielfältigkeit in Aktionsformen und eine gleichzeitige klare Ablehnung der Institutionen der Macht geeint wird. Ohne Vollversammlungen, ohne zentrale Organisation oder Pressesprecherinnen, gewinnt ein Kampf umso mehr an Stärke und Dynamik, wenn er das Experimentierfeld für diejenigen wird, die auf seiner Grundlage einzigartige Beziehungen knüpfen und sich entscheiden frei und wild anzugreifen, in was für einer Art und Weise auch immer. Die Lebendigkeit eines Kampfes zeichnet die Vielfältigkeit seiner Aktionsformen aus und die gemeinsame Solidarität unter diesen.
Ein Kampf gegen die Kohleindustrie, aber nicht nur, ein Kampf gegen die industrielle Zerstörung des Planeten also… Was sind mögliche Schritte um weiter zu gehen? Wir werden sehen…
Gefunden auf antisistema.blackblogs.org